The Truth is out there

Don DeLillos »Underworld«

"...fiction is a kind of religious fanaticism, with elements of obsession, superstition and awe" D. DeLillo, The Power of History

Zur Jahrtausendwende häufen sich die warnenden Stimmen, die uns Weltuntergangsszenarien, Apokalypsen und Verschwörungen kosmischen Ausmaßes vorhersagen. Nach dreißig Jahren in der Subkultur erreichten Verschwörungstheorien in den 90er Jahren den Mainstream. In Spielfilmen, im Fernsehen, in der populären Literatur, im Internet, überall stoßen wir auf Erzählungen von weltweiten Konspirationen, die den Einzelnen den Mächten des Bösen auszuliefern trachten. Sie bezeichnen einen Versuch in der unübersehbaren Wirklichkeit aus Fernsehbildern, Zeitungsberichten, im Supermarkt aufgeschnappten Erzählungen einen Sinn zu konstituieren. Sie erschaffen eine folgerichtige Welt, die der einzelne verstehen kann. Don DeLillo teilt sein Interesse an Verschwörungen nicht nur mit der populären Kultur seines Landes, sondern auch mit vielen, nicht nur US-amerikanischen Schriftstellern.

DeLillo ist schon von Beginn seiner literarischen Laufbahn in den 70er Jahren dem amerikanischen Mythos auf der Spur. Während er sich in seinen bisherigen Romanen in der Regel auf bestimmte Aspekte der amerikanischen populären Kultur beschränkte, bekommen wir mit Underworld einen umfassenden Überblick über kulturelle Panorama der USA in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. DeLillos Arbeiten kreisen um die Möglichkeit der Erkenntnis in einer immer komplexeren Welt, in der die Sinngebung für den Einzelnen immer schwieriger zu werden scheint. In seinem neuen Roman "Underworld" versammelt er Massenmörder, Verschwörer, Atomwissenschaftler, Baseballspieler, Präsidenten und Hollywoodstars in einem post-medialen Totentanz.

Underworld erzählt die geheime Geschichte des Kalten Krieges, die Geschichte seines Fallouts auf die amerikanische Kultur, wie es ein amerikanischer Kritiker so schön formulierte. DeLillos langjährige Themen Sprache, Ritual, Verschwörung, Medien, Tod sind unter dem Doppelbild des Mülls und der Atombombe zusammengefaßt. Ihr Zusammenhang ist kein kausaler, obwohl nukleare Abfälle als Super-GAU des Abfallwesens im Leben der Hauptfigur Nick Shay eine Rolle spielen, sondern ereignet sich eher auf der Ebene von Übertragung und Affinität. Diese Technik ist in Underworld allgegenwärtig. Der Ausgangspunkt für das Buch entsprang einem solchen zufälligen Zusammenkommen zweier Schlagzeilen auf dem Titelblatt der New York Times: als nämlich die Schlagzeile des Homeruns Bobby Thomsons, mit dem der Roman beginnt, neben derjenigen des ersten sowjetischen Atomtests in Kasachstan erschien. Die Erzählung entwickelt sich in solchen Paaren, die zueinander in Beziehung gesetzt werden. Genau wie in Verschwörungstheorien bestimmte Zahlen plötzlich eine geheimnisvolle, alles andere überragende Bedeutung erringen, scheinen in Underworld alle Ereignisse eine andere, tiefere Botschaft in sich zu tragen. Die Geschichte des apokryphen Baseballs, der im Yankee-Stadium geschlagen wurde, ist nur eine dieser Klammern, die die auseinanderstrebenden Teile der Erzählung zusammenhält.

Underworld besteht nicht nur aus einem Buch, es sind derer viele. Die unterschiedlichen Erzählstränge und handelnden Personen sind auf einer auf den ersten Blick ungewohnten Zeitachse angeordnet – die sechs Hauptteile folgen nämlich einer Reihenfolge von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit. Sie erzeugen so eine Art umgekehrten Bildungsroman, in dem die handelnden Personen nicht älter und weiser, sondern im Gegenteil jünger und waghalsiger werden.

Zeit wird in Underworld auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert wird. Die individuelle Geschichte der Figuren spiegelt sich in der allgemeineren der USA und der Welt, denn Underworld ist auch ein Buch über "Die Macht der Geschichte", darüber wie der Einzelne sie beeinflusst, sie verändert und von ihr verändert wird. In dem gleichnamigen Essay "The Power of History", der zum Erscheinen des Roman in der NY Times veröffentlicht wurde, bezeichnet DeLillo die Sprache als einziges Mittel, das dem Autor die Möglichkeit gibt, sich gegen den gleichmacherischen und vernichtenden Tod in der Geschichte zu behaupten und im Schreiben von Romanen eine Art Erlösung vor ihrer zermalmenden Wucht zu finden. Während der Lektüre kann der Roman auch dem Leser diese Möglichkeit der Erlösung und Transzendenz bieten. Das Individuum ist bei DeLillo immer teil eines umfassenderen Ganzen - der Gesellschaft und der Geschichte. Dies ist jedoch kein Grund zur Verzweiflung, denn so klein und unsichtbar diese Rolle auch sein mag, wir sind alle miteinander verbunden im Raum-Zeit-Gefüge dieser Welt. DeLillo zeigt Szenen aus dem Leben von J. Edgar Hoover, dem Chef des FBI und Marvin Lundy, dem Baseball-Memorabilia-Sammler gleichberechtigt nebeneinander stehen. Trotz einer Atmosphäre allgemeiner Düsternis, die viele Kapitel des Romans durchzieht, ist dies ein überaus menschlicher Ansatz, der dem Einzelnen seinen Platz in der Welt zugesteht.

"There is pleasure to be found, the writer's, the reader's, in a version of the past that escapes the coils of established history and biography and that finds a language, scented, dripping, detailed, for such routine realities as sex, weather and food, for the ravel of a red thread on a woman's velvet sleeve." The Power of History

Das Medium der Erlösung ist Sprache – wir lesen schließlich einen Roman. Wie schon in "The Names" und "White Noise" führt uns DeLillo die konstituierende Kraft des Benennens vor. Das richtige Wort verschafft fast magische Macht über den Gegenstand und die Welt. Der Unterschied zwischen Ding und Wort löst sich auf. Sprache erschafft Welt und gibt ihr einen Sinn. Und was für eine Sprache das ist, die DeLillo uns hier vorführt! Schnörkellose Prosa voll minutiöser Beschreibungen, die Orte und Atmosphären plastisch vor dem inneren Auge entstehen läßt, der synkopische Rhythmus von Lenny Bruce verweifelt-komischen Wortschwällen, der italo-amerikanische Dialekt von DeLillos Kindheit in den Bronx, die nur halbgesagten Sätze in den amerikanischen Vorstädten ... (Die im übrigen sehr gute deutsche Übersetzung von Frank Heibert konnte leider, aber verständlicherweise, nur wenig davon einfangen)

Diese Fülle, sowohl der Erzählstränge als auch der Sprech- und Schreibweisen, hinterlässt die LeserIn nach der Lektüre zuallererst ein wenig orientierungslos. Die unzähligen Personen und Geschichten, die verschiedenen Stimmen und Stimmungen, die in einem komplexen Muster ineinander verwoben sind, sich widersprechen, wiederholen, einander verstärken und wieder abschwächen, um uns am Ende eine Quasi-Erlösung im Cyberspace vorzuführen, sind manchmal einfach zu viel, zu unübersichtlich. Der Roman ist einem Hypertext vergleichbar, in dem immer wieder Verweise zu anderen Stellen zu finden sind. Eine Lektüre mag da nicht reichen. Aber jede weitere wird sich lohnen.

"Everything is connected in the end."