Häuser
Mir fiel diese Erzählung ein, die ich vor einiger Zeit geschrieben habe. Sie passt zur Fotoserie „Balkan Blues“, die ich vom 5. bis 22. Oktober 2017 in Berlin und ab 13. Oktober für drei Wochen in Graz zeige. Sie ist mehr ein Entwurf als ein fertiger Text und steht hier in all ihrer Unvollkommenheit – erstmal. Wie eines der Häuser, die irgendwann einmal fertig gebaut werden sollen. Bis dahin stehen sie da und bröckeln vor sich hin – wie traurige Menschen und ihre Träume (vom Ausland, vom Haus, vom Glück), die immer wieder enttäuscht werden.
Wasserflaschen, Getränkekartons, Snackpackungen. Aber vor allem Plastiktüten, überall liegen Plastiktüten. Die Feldern sind gesprenkelt mit weißen Plastiktüten, die der dunkelbraunen Erde untergepflügt sind. Das ganze Land ist bedeckt von einer Schicht Plastik.
Sie ist auf dem Weg nach Hause. Das sagt jedenfalls die Mutter: Wann kommst Du nach Hause? Dieses Zuhause fühlt sich aber an wie eine andere Welt. Wie auch nicht, sie war nur zu Besuch hier gewesen, endlose Wochen zwar, in den Sommerferien, aber es war nur Besuch. Die Mutter fragt jedes Mal danach, in einem vorwurfsvollen Ton, den vielleicht nur sie allein hört. Als ob sie von unsichtbaren Krakenarmen in einen tiefen Strudel gezogen wird, dem sie nicht entkommen kann. So fühlt sie sich.
Sie fahren über die Autobahn, an Ziegelhäusern in verschiedenen Baustadien vorbei. Sie warten in der Schlange, um die Autobahngebühr zu bezahlen. Vor einem Haus hinter der Autobahnabsperrung sitzt eine Familie auf der Veranda aus blankem Beton – Mutter, Vater, Kinder, Großeltern – und essen zu Mittag. Die Mutter steht und gibt das Essen auf die Teller. Zuerst müssen alle anderen satt werden, erst dann wird sie sich hinsetzen und selbst essen. Das, was übrig bleibt. Sie fahren weiter, am Fernsehturm Avala vorbei, der seit Jahren renoviert wird, seit er 1999 von den NATO-Bomben getroffen wurde.
Überall sieht man unverputzte Ziegelhäuser zwischen den rollenden Hügeln. Nicht alle sind bewohnt – es gibt viele Bauruinen, die nie fertig gestellt wurden, wo das Geld ausgegangen ist, die Bauherren in Italien gestorben sind, oder in Deutschland oder Österreich.
Zu Hause bedeutet, dass es ein Haus gibt, für das sich die Eltern abgeackert haben. Jede Sommerferien fuhr sie mit ihren Eltern nach Jugoslawien, statt nach Spanien oder Frankreich, Schweden oder Italien. Auch ihr Haus stand jahrelang unverputzt am Straßenrand. Sie wohnten während der Sommerferien im Erdgeschoss, während das obere Stockwerk noch gebaut wurde, im Flur noch die Glasbausteine gemauert wurden, der Klemptner vorbei kam und Heißwasserrohre verlegte oder sie die Dachziegel von einer Ecke in die andere Ecke des Gartens tragen mussten, weil sie dort, wo sie waren störten.
Das Haus ist inzwischen fertig. Was sollten sonst die Nachbarn denken. Das Nachbarshaus steht nach zwanzig Jahren immer noch nackt da in seiner Ziegelhaut. Die Nachbarn arbeiten nicht in Deutschland oder Österreich. Die Kinder von damals haben inzwischen selbst Kinder und die Ziegel haben begonnen zu bröckeln.
In ihrem Haus gibt es oben im ersten Stock vier Zimmer, zwei für sie, zwei für ihren Bruder. So war das gedacht. Aber in Wirklichkeit sind zwei der Zimmer einfach nur Rumpelkammern. Sie sind voll von Büchern, Kartons mit Klamotten, ein Berg mit Schuhen, von denen sie nicht genau weiß, wem sie einmal gehört haben, Zeitschriftenstapel mit alten Magazinen aus Deutschland, Kartons voll mit Handtaschen.
Abends sitzt sie unten am Schilf. Vor ihr fließt die Donau weiter ins schwarze Meer. Auf der anderen Uferseite ist Rumänien. Hier stand vielleicht einmal ihr Vater und schaute auf das Wasser, bevor er sich flussaufwärts auf den Weg nach Wien machte. Er stieg auf ein blankgeputztes rot-schwarzes Schiff, mit einem Schiffsglöckchen, das dreimal klingelte. Er hatte ein Tütchen Erde aus dem Garten vor seinem Haus in der Jackentasche, denn ohne, das wusste er, würde er sterben.
Sein Plan war im fetten Westen so viel Geld zusammenzukratzen wie er konnte, um sich auf seiner Heimaterde ein Haus zu bauen, wo er seinen Enkeln beim Spielen auf dem Rasen zuschauen und friedlich inmitten seiner Nachfahren in den Himmel fahren konnte. Es kam anders, der Westen saugte ihm das Blut aus, bis er zu Staub zerfiel.
Sie hat sich über sein Marmeladenglas mit Heimaterde lustig gemacht. Du bist doch kein Vampir, meinte sie. Später liest sie in einem uralten deutschen Magazin, das sie in einem der Zeitschriftenstapel in den Abstellzimmern gefunden hat, die Geschichte von Petar Blagojević. 1725 starben im Dorf Kisiljevo im Kreis Braničevo innerhalb einer Woche neun Personen nach vierundzwanzigstündiger Krankheit, heißt es dort. Sie hatten vor ihrem Tod ausgesagt, sie seien in der Nacht von einem gewissen Peter Plogojowitz besucht worden, der vor zehn Wochen im Dorfe gestorben und beerdigt worden war. Er habe sich auf sie gelegt und sie im Schlafe gewürgt. Die erschrockenen Dorfbewohner öffneten das Grab und fanden die Leiche „nach zehnwöchentlicher Bestattung mit Ausnahme der eingefallenen Nase noch frisch und ohne Geruch, Bart und Haar waren gewachsen, die alte Oberhaut und Nägel waren abgestoßen, aber unter denselben waren Neubildungen befindlich. Man pfählte und verbrannte den Vampyr, dessen Mund und Leib mit rotem Blut gefüllt waren.“ Danach starb keiner mehr in dem Dorf.
Sie ist nicht oft in den beiden Zimmern. Es ist stickig und verstaubt und riecht nach altem Papier. Sie atmet vorsichtig durch den Mund, nachdem sie fünf Mal hintereinander niesen muss. Jeder Nieser wirbel neuen Staub auf. Die Jalousien sind heruntergezogen, aus einem Spalt fällt ein Streifen goldenes Licht in eine Ecke auf ein Regel. Sie sieht sechs Gläser Honig stehen, die leuchten wie Katzenaugen im Dunkeln und zwei Flaschen vergessene Rakija.
Im Dorf ihrer Großmutter – noch weiter drin im Arsch der Welt – am Ortsausgang steht ein Haus, ein Rohbau noch. Es hat noch nie jemand darin gelebt. Die unteren Fenster sind kreuz und quer mit Brettern verrammelt. Die Außentreppen winden sich hoch zum Haupteingang im ersten Stock. Sie sehen aus wie Showtreppen aus einem Vierziger Jahre Musical. Wenn sie die Augen zusammenkneift, kann sie ahnen, was die Erbauer sich vorstellten: Eine Vision aus amerikanischen Fernsehserien der 1980er Jahre, wo reiche und schöne Menschen trotzdem unglücklich sind.
Im vergangenen Jahr gab es ein Autorennen in der Gegend, das durch das Dorf führte. Sie hat es sich angeschaut. Als es anfangen sollte, folgte sie einer größeren Gruppe Dorfbewohner etwas höher auf einen Hügel. Sie gingen auf das Haus zu und stiegen aufs Dach. Das Treppenhaus hatte kein Geländer, in den Räumen wuchsen Bewehrungsstäbe aus dem Beton. In einem Zimmer im zweiten Stock lag eine schmutzige Matratze, daneben zerbrochene Flaschen, Zigarettenkippen und eine halb abgebrannte illustrierte Zeitschrift. Auf dem Dach stand das halbe Dorf, schaute in Richtung Kurve und wartete auf den ersten Rennwagen. Keiner schaute zu ihr hinüber, aber sie wusste, dass sie über sie redeten. Das Rennen war nicht besonders aufregend, ab und an fuhr ein Auto vorbei, es nieselte und war kalt. Als sie gehen wollte, sprach sie eine Frau an.
„Wem gehörst du?“
Zu welcher Familie gehört du, sollte das heißen. So stellte man hier Kontext her.
„Ah, die ist doch in Deutschland?“
Ja, sagte sie.
„Du auch?“
Ja, sagte sie.
„Ich habe auch mal in Österreich gearbeitet, doch dann ist meine Mutter krank geworden und ich musste wieder kommen. Meine Cousine arbeitet immer noch in Süddeutschland als Putzfrau.“
Sie nickte.
„Und hast du einen Mann?“
Ja, sagte sie, einen Deutschen.
Die Frau schien beifällig. „Es ist gut in Deutschland. Die Arbeit.“
Ja, sagte sie.
„Was arbeitest du?“
Übersetzerin, sagte sie.
„Oh, da hast Du wohl studiert?“
Auf dem Weg ins Dorf zurück versuchte Milica sie dazu zu überreden, ihr einen Mann in Deutschland zu besorgen. „Du kennst doch sicher jemanden,“ sagte sie und lachte und zeigte ihre Zahnlücken. „Einen guten deutschen Mann. Ich kann kochen, dann kriegt er was anständiges zu essen.“
Sie wechselte das Thema. Was sei eigentlich mit dem Haus passiert? Es wäre doch seltsam, dass so ein großes Haus leer steht und verfällt.
„Oh, das ist eine traurige Geschichte,“ sagte Milica. „Dieser Mann hat in Italien gearbeitet. Er hat das Haus für seine Familie gebaut. Dann hat er aber in Italien einen Herzinfarkt bekommen und ist gestorben. Seine Kinder wollen das Haus nicht mehr, und niemand will es kaufen.“
Sie gingen an einer Reihe von Bienenstöcken vorbei, die hellblau und grün aus dem Gras hervor lugten. Die Bienen flogen aus ihren Häusern. Sie rochen den Frühling.
I fear I may matter so little to this world that I can cease to exist and no one and nothing would mourn my disappearance.
Jenny Zhang